Samstag, 25. Oktober 2014

Brighton/UK - mein Arschengel

Kennt ihr den durch Robert Betz geprägten Begriff des "Arschengels"? "Liebe deine Feinde bzw. deine ‚Arsch-Engel', denn auch sie dienen dir " (Robert Betz)

Einem meiner Arschengel - wobei das Wort hier nicht als Beleidigung oder respektlos empfunden werden sollte - traf ich in Brighton in einem buddhistischen Zentrum. Eigentlich nimmt man an, dass ein buddhistischen Kloster der letzte Platz für solch eine Begegnung sein sollte. Vielleicht ist es im Umkehrschluss aber auch die Beste. Denn wo bekommt man deutlicher gelehrt, Demut, Geduld mit sich und anderen und Mitgefühl zu üben. Ist doch prima, wenn man dann gleich in realen Situationen üben kann.

Mein "Engel" war eine 65-jährige Frau - Margarete.
Margarete lief an Krücken. Ein sichtbarer ungesunder Lebenstil war ihr zu Leibe gerückt. Hinzu kam eine stark fortgeschrittene Krebserkrankung, von der ich erst nach einigen Tagen erfuhr. Mir wurde am Anfang nur gesagt, dass sie sich sich um die Rabatten, die sich vor dem Haus befinden, kümmerte. Da sie nun allerdings schon knapp ein Jahr gesundheitliche Probleme hatte, benötigte sie von Zeit zu Zeit Hilfe. Kein Problem, dachte ich. Der noch hinzugefügte Rat, dass ich auf mich aufpassen solle, nahm ich nur am Rande war. 
Es folgten drei Tage, die geprägt waren vom Schaufeln schier endloser Löcher und strengen Anweisungen, wann welche Erde ich in welches Loch ,in welcher Tiefe zu füllen habe. Es ist nicht so, dass ich das erste Mal in meinem Leben Gartenarbeit verrichtete. Im Gegenteil - in meiner Kindheit und Jugendzeit verbrachte ich nahezu jedes Wochenende im Garten. Und ein mäßig ausgeprägter Dickkopf veranlasst mich üblicherweise, schon nach kurzer Zeit selbständig arbeiten zu wollen. Hier war das allerdings nicht möglich.
Meine "Chefin" stand mal auf Krücken, mal auf einen Spaten gestützt mit genervter Mine neben oder hinter mir. Hatte ich ein Loch noch nicht tief genug gebuddelt oder fragte nach, welche Abmaße es denn habe sollte, griff sie kurzerhand selbst zum Spaten. Um wenig später einen Schwindelanfall zu bekommen. Fast gewaltsam musste ich ihr dann den Spaten entreißen. Sicher war ihr Handanlegen in dieser Zeit die schlimmste Bestrafung für mich. Wiederholt musste ich drei verschiedene Erden in einem Loch mischen, bevor ich die umzutopfende Pflanze holen durfte. Zum Teil waren diese so schwer, dass ich sie allein mit der Schubkarre nicht balanciert bekam. Schaffte ich es nicht, einen großen Pflanzkübel hochzuheben, versuchte sie es selbst zu machen. Man muss dazu sagen, dass ich es durchaus gewohnt war auch schwere Sachen zu heben, mich auch vor körperlicher Arbeit nicht scheute, selbst von Zuhause die ein oder andere anstrengende Baumaßnahme gewohnt war, aber ich hier wirklich an meine Grenzen geriet. Dazu kam eine eisige Stimmung, in der ich mich fühlte, als wäre ich eine Marionette, die an Fäden ziehend höchstens ausführen darf, jedoch den Hintergrund nicht erfahren zu braucht. Nachdem ich glaube, nach einigen Umtopfaktion den Dreh mit der Erde, dem Mischverhältnis, der Lochtiefe- und breite raus zu haben, versuchte ich mich in der Mittagsschlafpause meines "Engels" an einer weiteren Pflanze. Das Resultat war, dass ich alles wieder ausgraben und neu befüllen durfte. Selbstverständlich unter einer akribischen Schritt-für-Schritt-Anleitung. Offensichtlich bekamen auch andere Bewohner des Klosters die Strapazen mit. Mir wurde Wasser vorbei gebracht, Kuchen gereicht und mich zu Pausen angehalten. Allerdings durfte das nur in den wenig unbeobachteten Augenblicken statt finden. Offensichtlich ging die Toleranz der Mitbewohner so weit, dass auch Magaretes Striezen geduldet wurde. In einer ruhigen Minute wurde mir von Lisabeth - selbst eine durch eine Krebserkrankung zum Tode verurteilte aber permanent lachende Klosterbewohnerin - mitgeteilt, dass Margarete durch ihre Erkrankung starke Schmerzen hätte. Dass ich mich in Geduld üben, aber trotzdem auf mich aufpassen solle. Ich wusste nicht ganz wie ich das anstellen sollte. Mittlerweile hatte ich jeden Tag Muskelkater, der Rücken tat weh - eigentlich ein Zustand über den man sich freuen sollte. Denn im normalen Studienalltag hatte ich außer durch meine Lauf-, Kletter- und Badmintonstunden nur selten die Gelegenheit mit körperlich auszupowern. Kommt eine unmotivierende, eisige Atmosphäre hinzu, wird es aber schnell zur Qual. Der Höhepunkt bildete ein riesiges Loch, was ich vor dem Kloster ausheben sollte. Erst nach und nach wurde mir mitgeteilt, dass das Loch dreieinhalb Meter im Durchmesser und eine Tiefe von eineinhalb Metern haben solle. Ich verbrachte mehr als acht Stunden damit, das Loch immer wieder zu befestigen, weiter auszuheben und zu vergrößern. Eine Beetbegrenzung musste versetzt werden und schubkarrenweise Erde herangeschafft werden. Schließlich wurde das Loch Schicht für Schicht mit Erde halb angefüllt. Dann war auf einmal Schluss. Von einer auf die andere Stunde wurde ich aus den Diensten meines Engels entlassen. Ich hörte kein Danke und auch nicht den Grund für dieses riesige Loch. Mein weitere r"Arbeitsplatz" befand sich wieder hinter dem Haus im Garten, wo ich ohne Aufsicht in Ruhe Unkraut jäten und die Anwesenheit von Füchsen, Tauben, Zaunkönigen und Fasanen genießen konnte. Erst zwei Tage später erfuhr ich durch Zufall vom wahren Grund für das halbgefüllte Loch. In Gartensachen und Gummistiefeln wurde ich vom Garten in den Gemeinschaftsraum geführt. Dort fiel mir eine mir unbekannte, tränenüberströmte Frau um den Hals, die sich für meine Arbeit bedankte. Ich wusste nicht ganz, wie mir geschieht und welchen großen Nutzen dieses Loch für die völlig aufgelöste Frau haben sollte. Bis mir von Lisabeth erklärt wurde, dass diese Frau genau vor einem Jahr ihren Sohn durch einen Suizid an den hochaufragenden Klippen von Brighton verloren hatte. Nun wolle sie Ruhe und Frieden finden und mit dem Tod ihres Sohnes abschließen. Dazu wurde ein kleines Fest gefeiert zu dessen Anlass Margarete - eine gute Freundin dieser Frau - einen Gedenkstein und eine Magnolie besorgt hatte. Und diese sechzig Zentimeter hohe Magnolie wurde während der Zeremonie in dieses riesige Loch gesetzt.
Ich war berührt und zutiefst erschüttert. Einerseits über das Schicksal der Frau, andererseits über die Geheimniskrämerei von Margarete. Diese kam mit einem verhaltenen, aber ehrlichen Lächeln auf mich zu und dankte mir.
Nachdem ich mehrmals ein Geschenk von ihr ablehnte, überreichte sie mir am letzten Tag, kurz vor meiner Abreise ein Buch von Geshe Kelsang Gyatso, dem spirituellen Meister dieses und vieler anderen buddhistischen Zentren auf der Welt. Ich glaube, es hätte mir in dem Moment keiner ein besseres Geschenk machen können.

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